Offener Brief zur Präsenzlehre

Präsent bleiben.

Ein Brief an die Bildungspolitiker*innen in Ländern und Bund.

Wir sind ein bundesweiter Zusammenschluss aus studentischen Initiativen und Organen. Bei uns finden Perspektiven aus unterschiedlichen Studienrichtungen, Hochschulstandorten und Tätigkeitsfeldern zusammen.

Eine Gesellschaft, die ihre Universitäten vernachlässigt, schadet mittel- und langfristig sich selbst. Eine Universität bildet nicht nur Fachpersonal der Zukunft aus, sondern sie stellt auch ein Forum dar, das sozialen Zusammenhalt und den vernunftbasierten Diskurs über gesellschaftliche Veränderungen fördert. Damit dies auch jetzt und in der Zeit nach der Pandemie gelingt, braucht die Universität dringend Zuwendung.

Unser Zusammenschluss hat eine Forderung: Lassen Sie uns studieren!

Die Universität ist keine Lehranstalt, kein Serviceprovider, der nach Belieben auf Ersatzangebote ausweichen kann. Sie ist ein realer, physischer Ort. Ein Stück Stadt. Ein Lebensabschnitt.

Seit einem Jahr kommt in der Online-Lehre die Bologna-Reform an ihren konsequenten Endpunkt: Wir werden Nummern. Die Bildungserfahrung wird endgültig in schwarze Kacheln aufgelöst.

Bitte setzen Sie sich für unmittelbare Erleichterungen der derzeitigen Studiensituation, ernsthafte Präsenzbemühungen für das Wintersemester und die transparente Kommunikation und demokratische Gestaltung der bereits begonnenen Digitalreform ein.

Unmittelbare Erleichterungen

In der Ungewissheit, die im letzten Frühjahr herrschte, war es richtig, die Präsenzlehre vorübergehend einzustellen. Wir erkennen an, dass damit ein Beitrag zur Eindämmung des Infektionsgeschehens geleistet wurde. Mit zunehmendem Wissen über das Virus wurde es an einigen Orten möglich, mit Konzepten, die diese wissenschaftlichen Erkenntnisse einbeziehen, verhängte Einschränkungen schrittweise aufzuheben. Wir verstehen nicht, warum solche Konzepte an den Orten der Wissenschaft selbst nicht realisiert werden. 

In vier Bereichen fordern wir die Verantwortlichen auf, unverzüglich zu handeln:

(1) Psychische Gesundheit: Die Pandemiemaßnahmen haben die bereits abnehmende psychische Gesundheit von Studierenden weiter verschlechtert.1 Ausgerechnet die psychologischen Beratungsstellen der Universitäten gehören zu den meist nur digital stattfindenden Angeboten. Für die psychische Gesundheit ist die menschliche Begegnung unverzichtbar. Wir fordern daher eine unverzügliche coronakonforme Öffnung und den Ausbau der Angebote.

(2) Finanzielle Unterstützungsangebote: Durch den Wegfall von Minijobs insbesondere in der Gastronomie und der Veranstaltungsbranche sind zahlreiche Studierende in finanzielle Notlagen gekommen.2 Zu ihrer ökonomischen und psychologischen Entlastung fordern wir verbindliche finanzielle Zusicherungen (z.B. BAföG-Verlängerung schon für das Wintersemester, Erhöhung von Kinderfreibeträgen und einen nicht-kreditbasierten Ausbau der Nothilfen).

(3) Bibliotheken: Die (Teil-)Schließungen der Bibliotheken erschweren Forschung und Studium insbesondere in literaturintensiven Fächern massiv. Junge Studierende können den Gebrauch wissenschaftlicher Bibliotheken derzeit nicht lernen. Fortgeschrittene Studierende und Dozierende können wichtige Methoden ihrer Forschung und ihres Studiums nicht anwenden. An vielen Standorten kaum, manchmal gar nicht zugänglich sind auch ruhig gelegene Bibliotheksarbeitsplätze und (Klein-)Gruppenarbeitsräume. Wir fordern daher die sichere Öffnung von Bibliotheken, Arbeitsplätzen und -räumen zu den im Regelbetrieb vorgesehenen Öffnungszeiten.

(4) Mensen: Wir fordern Öffnungsregelungen der Mensen analog zu betrieblichen Kantinen. Auch dies würde zur Linderung von Einsamkeit und finanziellen Nöten beitragen.

Rückkehr zur Präsenzlehre

Wir möchten betonen: Der generellen Atmosphäre der Unsicherheit, in der sich Studierende derzeit befinden, wird durch diese Forderungen noch nicht Einhalt geboten. Es mangelt hierfür vor allem an verbindlichen Aussagen über die Realisierung des kommenden Semesters. Ein erneutes Digitalsemester ist als Perspektive nicht hinnehmbar.

Wir nehmen zur Kenntnis, dass im April der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz eine Präsenzrate für das kommende Semester benannt hat.3 Wir sind allerdings der Auffassung, dass der genannte Wert von 30 % den restriktiven hochschulpolitischen Krisen- und Reformkurs der letzten Monate weiter normalisiert.

Angesichts der Impf-Prognosen erwarten wir zum Wintersemester ein klares Bekenntnis zur Präsenzuniversität: Wir fordern, dass ab kommenden Wintersemester wieder mehr als die Hälfte der Hochschulveranstaltungen in leiblicher Anwesenheit stattfindet. Diese Quote muss in kommenden Pandemiephasen aufrecht erhalten werden, notfalls durch umfassende Investitionen in zusätzliche Hygienemaßnahmen.

Konkret fordern wir:

(1) alle Studiengänge und Semester in Wiedereröffnungskonzepte einzubeziehen. Die von uns geforderte Präsenzrate muss in allen Studiengängen und innerhalb der Studiengänge sowohl in grundständigen als auch in weiterführenden Modulen erreicht werden.

(2) mit kleinen, interaktiven Formaten zu beginnen, insbesondere mit Seminaren, Kolloquien, Sprachkursen und Übungen.

(3) Raumknappheit durch Zusammenarbeit mit Kinos, Hallen, Clubs und Theatern zu lösen. Dies trägt auch zur Besserung der ökonomischen Situation von Angestellten des Kultur- und Veranstaltungssektors bei.

(4) Fachschaften und Hochschulgruppen „Muster-Konzepte“ zur Verfügung zu stellen. Ein von Expert*innen entwickelter Pool von Musterkonzepten muss ehrenamtliche Studierende bei der Planung von Präsenzveranstaltungen entlasten, die die Vernetzung und das Sozialleben fördern. (bspw. Erstiveranstaltungen, Bibliotheksführungen, Unikinos, etc.). (

5) Corona-Tests zu ermöglichen, so lange nicht alle Studierenden einen Impftermin bekommen konnten. Diese zu gewährleisten ist unseres Erachtens Aufgabe der Länder und Hochschulleitungen, nicht der Studierendenschaft oder der Studierendenwerke.

(6) Keine Fortsetzung der Benachteiligung von Hochschulen in bundesweiten Öffnungskonzepten gegenüber anderen Bildungsinstitutionen und Berücksichtigung der speziellen Rolle der Hochschulen für unsere Gesellschaft.

Digitalreform der Universität

Die Präsenzlehre steht aktuell unter einem hohen Rechtfertigungsdruck. Aussagen wie die des Vizepräsidenten der Hochschulrektorenkonferenz, dass „auf Dauer mit einem digitalen Anteil von 20 bis 40 %“4 gerechnet werden müsse, stimmen uns bedenklich. Die Zukunft der Universität muss in Anbetracht des Ausnahmezustands der letzten Semester dringend Gegenstand einer offenen, gesamtgesellschaftlichen Debatte werden. Es reicht nicht, wenn wir, die Betroffenen, davon aus der Presse erfahren.

Wir lehnen Digitalisierung an Universitäten nicht ab. Im Gegenteil, in einer medialisierten und von einem Dialog mit allen Beteiligten begleitet sein.

Von der Art und Weise, wie wir aus dem virtuellen Ausnahmezustand herausgehen und auf ihn zurückblicken, wird die weitere Richtung der schon angelaufenen Digitalreform des Hochschulsystems abhängen.

Wir fordern hier zwei strukturbildende Maßnahmen:

(1) Angemessene Evaluation der Corona-Pandemie: Wir befürchten eine unausgewogene Reflexion der Pandemieerfahrungen. Insbesondere die gesellschaftlichen, sozialtopologischen und kulturellen Aspekte der sprunghaften Digitalisierung scheinen in vielen Evaluationen unbeachtet zu bleiben.5 In Kommissionen zur Beurteilung der Auswirkungen pandemiebedingter Maßnahmen auf die Universitätskultur könnte ergänzend die primär qualitative Reflexion von Pandemieerfahrungen geleistet werden. Schwerpunkte könnten Fächerkulturen, Hochschulöffentlichkeit, Gleichstellungsaspekte, Bildungsgerechtigkeit und der Charakter von universitärer Forschung, Lehre und Studium sein.

(2) Konkurrenz von digitalen und analogen Formaten vorbeugen: Digitale Formate stellen für uns keinen adäquaten Ersatz für Präsenzlehre dar, sondern sind parallel zu ihr eine Ergänzung des universitären Konzerts. Digitalisierung darf nicht als Instrument für Einsparungen im Bildungsbereich missbraucht werden. Jegliche Ausgaben für den Ausbau (teil-)digitaler Infrastruktur, der Entwicklung und Durchführung von OnlineLehre oder sonstige aus Digitalisierung erwachsende Fixkosten müssen als Zusatzinvestitionen zur Grundfinanzierung der Präsenzuniversität klassifiziert werden. Jeder dieser Zusatzinvestitionen muss in gleichem Umfang eine zweckgebundene Zusatzinvestition in die Universität als physischen, sozialen Ort entsprechen. Um diesen Ausgleich zu gewährleisten, braucht es die Schaffung einer Gesetzesgrundlage. Die Frage nach virtueller oder Präsenzlehre darf kein Nullsummenspiel werden.

Schluss

Wir kritisieren, dass der ursprüngliche Lockdown der Universitäten seit nunmehr 2 ½ Semestern andauert. Hierunter leiden nicht nur Forschung, Lehre und Studium, sondern auch Menschen, die beengt wohnen, einsam, psychisch belastet, finanziell oder sozial benachteiligt sind.

Darüber hinaus haben Universitäten auch eine gesamtgesellschaftliche Funktion zu erfüllen: Sie sind Lern-, Begegnungs- und Streitraum. Wir fordern, dass sie diese Verantwortung zeitnah wieder wahrnehmen dürfen. All das geht – etwa durch Phasenpläne – auch sicher in einer Pandemie wie dieser. Die hohen Inzidenzzahlen von heute sind keine Rechtfertigung für die Konzeptlosigkeit von morgen.

Bitte nehmen Sie sich der Universität und damit der Zukunft unserer Bildung endlich ernsthaft an!

Mit freundlichen Grüßen,

Verfasst von:

Fachschaft Philosophie der CAU Kiel

Fachschaft Physik der Universität zu Köln

Komitee gegen die Hochschulreform (München)

Mehr Präsenz wagen, Würzburg! (Würzburg)

Offene Hochschulen Hamburg (Hamburg)

OnlineLeere Deutschland (OG Heidelberg, Kiel, Münster)

NichtNurOnline (Berlin)

Initiative Uni zu (Köln, Göttingen)

13 Seiten ohne uns (München)

Unterstützt durch:

StuVe Uni Konstanz

und viele mehr

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1

56 % der Studierenden gaben in einer Umfrage der AOK Baden-Württemberg an, dass die CoronaMaßnahmen sie psychisch stark belasten würden. (AOK Studie Corona: Antriebslos, einsam, müde: Warum die Corona-Krise Studenten besonders trifft, 18.03.2021, URL: www.swp.de/panorama/aok-studie-corona-antriebslos_-einsam_-muede_-warum-die-corona_krise-studenten-besonders-trifft-55767182.html )

2

Einkommenseinbußen werden bisher durch den Rückgriff auf Erspartes oder Unterstützung durch Verwandte ausgeglichen. www.studentenwerke.de/de/content/wirtschaftliche-lage-der_studierenden-der

3

Peter-André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, z.B. hier: Tagesspiegel vom 23.04.2021, URL: www.tagesspiegel.de/wissen/ziel-fuer-das-wintersemester-2021-22-30- prozent-campus-praesenz-ab-herbst/27122870.html

4

Oliver Günther, Vizepräsident der HRK (Hochschulrektorenkonferenz) im DLF-Interview vom 2.5.2021, URL: www.deutschlandfunk.de/campus-karriere-das_bildungsmagazin.679.de.html LLSPKZVpZj6l5eRbodiXtK3tcn9cyFm3SM

5 Siehe hierfür beispielsweise den Fragenkatalog der Online-Befragung des BMBF: „Eine für alle: die Studierendenbefragung in Deutschland”.